Techniker arbeitet an einer Lenkung

Moderne Lenksysteme: Komfort, Sicherheit und Energieeffizienz

Eine Bestandsaufnahme über den Entwicklungsstand moderner Lenksysteme, elektrische Lenkungen und Steer-by-Wire-Systeme.

Eine Bestandsaufnahme über den Entwicklungsstand moderner Lenksysteme, elektrische Lenkungen und Steer-by-Wire-Systeme.

Siegfried Dejaco ist als CEO Steering Gear unter anderem verantwortlich für die Entwicklung von Lenkgetrieben im Lenkungsgeschäft von Thyssen-Krupp. Dort gestaltet er den Übergang von hydraulischen zu elektrischen Lenkungen. Neben bereits verfügbaren Funktionen wie einer geschwindigkeitsabhängigen Lenkunterstützung oder Seitenwindkompensation zeichnen sich weitere Trends ab. „Vor allem mehr Funktionalitäten für automatisiertes Fahren, Komfortfunktionen wie etwa Spurhalteassistent, Unwucht- und Straßenneigungskompensation oder auch individuelle Einstellungen der Lenkkraft sind gefragt. Auch automatische Rangierfunktionen für Lkw, die das Anfahren an die Rampe sicherer und schneller machen sollen, werden kommen.“

Fehlfunktionen durch Wechselwirkungen vermeiden

Schon heute gibt es in Pkw ähnliche Einparkfunktionen, bei denen die Bordelektronik mit der Lenkung vernetzt ist. Immer mehr Elektronik, Sensoren und Aktuatoren von anderen Subsystemen, zum Beispiel von Bremse und Stoßdämpfern, interagieren mit der Lenkung. „All das miteinander zu verknüpfen, ist hochkomplex und eine der größten Herausforderungen in modernen Fahrzeugen“, erklärt Dejaco. Rund 1.000 Softwareentwickler arbeiten bei Thyssen-Krupp daran, sichere Lenksysteme zu entwickeln.

Bei all den technischen Möglichkeiten müsse jedoch immer das Kosten-Nutzen-Verhältnis beachtet werden. Betrachtet man das Gesamtfunktionspaket der Lenkung inklusive der Servopumpen für die Lenkhydraulik, ist eine rein elektrische Lenkung für Pkw kaum teurer als eine elektrohydraulische. „Das hat aber primär mit den hohen Stückzahlen in der Automobilindustrie zu tun. Anfangs war hier die E-Lenkung nahezu doppelt so teuer“, sagt Dejaco. In rund 70 Prozent aller Pkw werden heutzutage elektromechanische Lenkungen verbaut. In Nutzfahrzeugen mit hohen Zahnstangenkräften greift man nach wie vor auf elektrohydraulische oder rein hydraulische Systeme zurück.

ZF arbeitet an der Revolution der Lenkung. Foto: ZF

Revolution der Lenkung

Doch das wird sich ändern. 2018 präsentierte ZF mit der ReAX EPS den Prototyp einer rein elektrischen Lenkung für Nutzfahrzeuge; seitdem hörte man nichts mehr von dem Projekt. Hinter den Kulissen jedoch arbeitete ZF weiter an der „Revolution der Lenkung“, wie Dan Williams sagt. „Wir sind noch in der Entwicklung, aber die elektrische Lenkung wird schon sehr bald auf den Markt kommen. Zunächst nicht in der Fläche, sondern nur in einigen Baureihen.“ Williams ist Direktor Fahrerassistenzsysteme und autonomes Fahren für Nutzfahrzeuge bei ZF in den USA. Mit seinem Team entwickelt er Fahrerassistenzfunktionen, die mit der Lenkung vernetzt sind. Interessant ist ein elektrisches Lenksystem vor allem im Hinblick auf künftige, noch strengere CO2-Grenzwerte. Elektrische Lenkungen bieten ein großes Kraftstoffeinsparpotenzial, auch wenn der kräftige Elektromotor der Lenkung ein Stromverbraucher ist, der Änderungen an der Fahrzeugelektrik nötig machen könnte. Durch 48-Volt-Bordnetze sind jedoch die Bedingungen für den Einsatz in neueren und künftigen Fahrzeugen bereits geschaffen.

Derweil arbeitet das Team von Dan Williams weiter an Fahrerassistenzsystemen, die mit der Lenkung interagieren. „Ab einem bestimmten technischen Detailgrad reicht es unter Umständen aus, einen Sensor hinzuzufügen, um eine neue Funktion zu ermöglichen“, berichtet Williams und nennt ein Beispiel. Werde der vorhandene Spurhalteassistent um ein seitliches Kurzstreckenradar ergänzt, ließe sich relativ leicht eine Spurwechselfunktion implementieren. In Pkw funktioniert das bereits, aber, so der ZF-Experte: „Man kann nicht einfach die Technik aus dem Pkw übernehmen. Nutzfahrzeuge haben andere Maße und eine ganz andere Dynamik. Wir müssen das von Grund auf neu entwickeln.“

Produktionsprozess bei Thyssen-Krupp im Werk Eschen. Foto: Thyssen-Krupp

ZF kooperiert mit Locomation

Vor wenigen Wochen verkündete ZF in den USA eine Kooperation mit Locomation, einem Start-up, das autonome Fahrfunktionen für Nutzfahrzeuge entwickelt. Die Unternehmen werden zusammenarbeiten, um das Level-4-fähige elektro­hydraulische ReAX-Lenksystem von ZF unter realen Bedingungen zu entwickeln und zu testen. Denn anders als in Deutschland, wo sich mehrere Lkw-OEMs vorerst vom Platooning zurückziehen, entwickelt Locomation das Prinzip weiter: Das zweite Fahrzeug soll dem ersten autonom folgen. Schon Ende 2022 will Locomation seine erste Produktlinie, Autonomous Relay Convoy, einsetzen. Mit zwei Kunden gibt es Verträge über insgesamt 2.120 Lkw, die mit dem System ausgestattet werden sollen.

Gesteigertes Interesse an Platooning kann Siegfried Dejaco von Thyssen-Krupp in Deutschland nicht erkennen. Dafür aber eine deutlich gestiegene Tendenz zu Steer-by-Wire­(SbW-)Systemen im Pkw-Sektor, zumindest als Option oder für Nischensegmente. Bei SbW-Lenkungen werden die Lenkbefehle ausschließlich elektronisch erfasst und per Kabel zum Aktuator weitergeleitet. Bereits heute sind SbW-Lenkungen im Serieneinsatz, bei denen die Lenkwelle zwar noch vorhanden ist, aber lediglich als Redundanz dient. „Der gesamte Vorderwagen könnte kostengünstiger entwickelt werden. Es wären ein einfacheres Packaging möglich und eine modernere Innenraumgestaltung, zudem würde auch die Crashsicherheit steigen“, fasst Dejaco die Vorteile zusammen.